Entwicklung
Das Zuchthaus Kassel-Wehlheiden, heute Justizvollzugsanstalt Kassel (römisch eins),1 wurde von 1873 bis 1882 in der Theodor-Fliedner-Straße errichtet und am 01.10.1882 unter dem Namen „Königlich-Preußische Strafanstalt Cassel-Wehlheiden“2 eröffnet.
Im Zuchthaus saßen in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg durchschnittlich um die 450 Inhaftierte ein. Nach Kriegsanbruch stieg diese Zahl bis auf weit über 600 Insassen an, vor allem ausländische politische Gegner werden inhaftiert. Nach Ende des Krieges wurde die Anstalt ausgebaut und modernisiert.
Während der Weimarer Republik rückte der Aspekt der Erziehung immer mehr in den Vordergrund, die Häftlinge erhielten nun mehr Freiheiten, sie durften etwa Zeitung lesen. Ab dem 01.03.1926 wurde der Stufen-Strafvollzug eingeführt, die Häftlinge konnten sich durch gutes Benehmen mehr Freiheiten verdienen.
Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges stiegen die Häftlingszahlen stark an, sodass daraus trotz Umbauten, die zu einer Kapazität von 950 Insassen führte, eine Überbelegung resultierte (etwa 1.500 Häftlinge insgesamt). Die Überbelegung wurde durch die Übernahme von den Häftlingen der stark beschädigten „Elwe“3 noch verstärkt. Durch die Justizpolitik der Jahre 1939 bis 1945, sowie aufgrund von Mangelernährung und Frost, starben innerhalb dieser sechs Jahre insgesamt 417 Gefangene. Auch durch die Verlegung in das Arbeits- und Erziehungslager Breitenau oder das KZ Buchenwald fanden viele den Tod. Weiterhin meldeten sich im Jahr 1943 nach Bombenangriffen viele Insassen trotz Lebensgefahr freiwillig zu Räumungsarbeiten, meist wurden sie aber gezwungen, diese Arbeit zu verrichten. Am 30.03.1945 wurden 12 Häftlinge ohne Gerichtsurteil von der Gestapo erschossen. Einen Tag zuvor war die Anstalt geräumt worden und die meisten gehfähigen Insassen wurden gezwungen, sich auf den Weg zum KZ Dachau zu machen. Der Transport wurde nach Bernau von amerikanischen Kräften gestoppt.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges besetzten Amerikaner die Einrichtung und erhielten sie im Notbetrieb, da es an Personal mangelte. Dieses war überwiegend festgenommen worden. Die etwa 250 verbliebenen Gefangenen und die Zugänge aus „Elwe“ und der Frauenhaftanstalt Frankfurt-Preungesheim (insgesamt etwa 1.200 Personen) konnten sich aber Schlüssel von dem US-Kommando besorgen und so die Anstalt in Eigenorganisation von 1945 bis 1954 zum Teil wieder aufbauen. Trotzdem war ein regulärer Betrieb bis 1954 aufgrund der nachkriegsbedingten Versorgungslage und Schäden am Bauwerk nicht möglich.
Ab den 1960er bis in die 1970er Jahre wurden Sanierungen und Erweiterungen vorgenommen. 1969 wurde „Elwe“ der Anstalt angegliedert, 2001 aber wieder ausgegliedert. Am 01.01.1977 trat das Strafvollzugsgesetz in Kraft, worin die Rechte und Pflichten der Gefangenen, aber auch der Wärter beschrieben sind.
Das Zuchthaus während des Zweiten Weltkriegs
Da der Anstaltspfarrer Adolf Dörmer, der von 1937 bis 1961 im Zuchthaus Kassel-Wehlheiden arbeitete, eine Chronik ebendieser verfasste, ist es möglich, das damalige Leben in dem Zuchthaus genauer nachzuvollziehen. Dafür eigen sich ebenso Briefe, Gedichte und Berichte von Zeitzeugen wie z. B. Kurt Finkenstein.
Dörmer berichtet über viele Aspekte des Lebens der Wärter und auch das der Gefangenen. So berichtet er, dass die Wächter schon vor dem Zweiten Weltkrieg immer mit Pistole und Gummiknüppel bewaffnet sein mussten.4 Auch die Uniform und ihr Wandel mit der NS-Diktatur werden genauer beschrieben.5
In der Anstalt wurde Vieh gehalten und auch Gemüse angebaut,6 was nützlich war, da die Gefangenen keine Lebensmittelpakete empfangen durften und so die Verpflegung etwas aufgestockt werden konnte. Die Essensmenge war abhängig von der körperlichen Belastung der Arbeiten, sodass manche Gefangene Zuschläge bekamen. Da Lebensmittel während des Krieges knapp waren, ist es kaum verwunderlich, dass im Oktober 1943 72,86% der Inhaftierten untergewichtig waren.7
Der Inhaftierungsgrund war an den Uniformfarben zu erkennen: Arbeitshausgefangene trugen mittelblaue Uniformen, Zuchthaus- und Sicherheitsverwahrte besaßen erst schwarze, dann dunkelgraue Kleidung. Letztere konnten an farbigen Armbinden und Hosenaufnähern unterschieden werden. Zuchthausinhaftierte trugen Gelb, Sicherheitsverwahrte Grün. Bei Außenarbeiten mussten außerdem noch rote Streifen am linken Ärmel oben getragen werden.
Die Gefangenen schliefen auf Papiergewebesäcken, die mit Stroh gefüllt waren.8
Als sich gegen 1941 die Bombenangriffe auf Kassel mehrten, wurden die Leiter des Zuchthauses aufgefordert, Teams aus Freiwilligen aufzustellen, die bei der Entschärfung der Blindgänger helfen sollten. Überraschenderweise gab es so viele Freiwillige, dass ausgewählt werden konnte. Viele Gefangene, besonders Deutsche, hofften so ihre Ehre wiederherstellen zu können und andere Menschen vor dem Tod bewahren.9
Auch ohne sich freiwillig zur Bombenentschärfung zu melden, schwebten die Inhaftierten immer in Lebensgefahr. Das Zuchthaus war stark überbelegt und so konnten sie laut Dörmer in keinen Luftschutzbunker Zuflucht suchen. Stattdessen wurden die Häftlinge in die unteren Geschosse gebracht, auch die Wärter kamen dorthin mit, sie fühlten sich dort sicherer als in einem Bunker. Außerdem bestand die Hoffnung, dass das Gebäude aufgrund der vielen politisch Verurteilten und ausländischen Häftlingen nicht bombardiert werden würde.10 Tatsächlich hielten sich die Schäden am Zuchthaus in Grenzen.
Viele der inhaftierten Ausländer kamen aus Tschechien, da im März 1942 250 Tschechen, die überwiegend Widerständler waren und Deutsch sprechen konnten, aufgenommen wurden. Dörmer schreibt, dass, trotz anfänglicher Bedenken, eine gute Führung möglich war und sich viele intelligente Menschen unter ihnen befanden. Nach dem Krieg hätten sich viele per Brief über die freundliche Behandlung bedankt.11
Mein Gefängnis12
Kurt Finkenstein, 1943 im Zuchthaus Wehlheiden
Moderdunst umfängt uns immer muffig dumpf.
Werk- wie Rasttag schleppt sich gleich beklemmend schwer.
Selbst der Widerwille wird allmählich stumpf,
und man vegetiert nur noch – man lebt nicht mehr.
Auch ein heller Tag ist hier nie richtig hell.
Die Musik der Welt verebbt am Außentore.
Nur der Zeichenschelle heiseres Gebell
kichert pünktlich durch die öden Korridore.
Selbst die Julisonne wärmt uns kaum,
streift sie flüchtig uns Gesicht und Hand,
immer ist es kalt in unsrem kahlen Raum.
Unerträglich wird das nackte Weiß der Wand.
Saugend hing zuerst der Blick am Wolkenflug;
aber Sehnsucht selbst erkaltet und vereist,
bis dann unversehns ein Wandervogel
unsere Herzen mit sich in die Weite reißt.
Gnadenlos erwürgt der dünne Uhrenschlag
eine Stunde nach der anderen ungelebt;
dennoch zählst du ungeduldig Tag um Tag,
der dich eine Spanne aus dem Dunkel hebt.
Manchmal zwitschert ein Spatzenschwatz ums Fenstergitter,
stört uns einer Hummel brummendes Gesumm,
oder droht uns polternd Donner und Gewitter,
andre Stimmen der Natur sind für uns stumm.
Weil man zu verloren in Erinn‘rung schwelgt,
zu verzweifelt an gestorb’nen Zeiten klebt,
merkt man kaum, wie man verwittert und verwelkt,
spürt kaum, wie die Welt heut stöhnend wankt und bebt.
Denn am Außentor verebbt der Lärm der Welt,
und man lebt hier so, als wäre man schon tot.
Nur wenn scharf die Pausenglocke pünktlich schellt,
freust du dich: Auf Ruhe, Suppe, ein Stück Brot.
Quelle
Justizvollzugsanstalt Kassel I (Hg.) (2017): Geschichte der JVA Kassel I, https://jva-kassel1-justiz.hessen.de/irj/JVA_Kassel_I_Internet?cid=beacd2d3f2581ca50c178890c6c4b48b, Zugriff: 18.10.2017.
Krause-Vilmar, Dietfrid (Hg.) (2001): Kurt Finkenstein: Briefe aus der Haft, Kassel.
HNA Regiowiki (2015): JVA Wehlheiden, http://regiowiki.hna.de/JVA_Wehlheiden, Zugriff: 18.10.2017.
Orth, Barbara (2015): Chronik der Justizvollzugsanstalt Kassel-Wehlheiden von Pfarrer Adolf Dörmer, Kassel.
HNA Regiowiki (2015).↩
Justizvollzugsanstalt Kassel I (2017).↩
Justizvollzugsanstalt lll in der Leipziger Straße 11. „Elwe“ ist die Zahl Elf im Dialekt der Kasseläner.↩
Orth (2015), S. 61ff.↩
Ebd., 59ff.↩
Ebd., 124ff.↩
Ebd., 138ff.↩
Ebd., 133ff.↩
Ebd., 205ff.↩
Ebd., 205ff.↩
Ebd., 209ff.↩
Krause-Vilmar (2001), S. 315f.↩